BÖTTCHER-NEWSLETTER 12/2013
VOM FÖRDERN + FORDERN UND GEBEN UND
LIEBEN + ÜBEN + SEHNSUCHT
Liebe Freunde,
hier kommen die allerherzlichsten Grüße
von mir zu euch – und ein letzter kleiner Newsletter in diesem
ereignisreichen Jahr. Ich bin gestern Nacht von einer weiteren
Konzert-Tour zurückgekehrt und fühle mich erschöpft und
lebensmüde, gleichzeitig auf merkwürdige Weise ermutigt und
beschwingt durch die vielen wunderbaren Begegnungen mit all den
Menschen (und/also einigen von euch!), die wie ich auf der ständigen
Suche nach Sinn in all dem Wahnsinn und Frieden in all dem Krieg
sind, der uns alle täglich umgibt.
Gestern früh bin ich auf der schönen
Nordseeinsel Sylt aufgewacht. Nach einem kurzen Strandspaziergang bin
ich im Morgendunst durch das verschlafene Dörfchen geschlendert, in
dem ich Quartier genommen hatte. Und alles war still. Es kam mir fast
vor wie eine Sinnestäuschung. Alle Kneipen, Restaurants und
Souveniershops waren geschlossen, das Leben spielte sich nicht auf
den Straßen den Gässchen oder den Stränden ab, sondern - wenn
überhaupt - in den schwachbeleuchteten Wohnzimmern der
Einheimischen, von denen einige wahrscheinlich nicht mal im Traum
daran dachten, an einem so unfreundlichen Tag auch nur einen einzigen
Schritt vor die Tür bzw. vors eigene Bett zu setzen. Winterschlaf.
Und ich erwischte mich wieder bei dem Gedanken, dass es möglich sein
müsste, deutlich mehr Ruhe und Gelassenheit in unsere Leben
einzuladen. Aber, ach ja, nee, da is ja noch was. Zeit für Stille?
Das muss man sich ja erstmal leisten können.
Ich werd das Fass jetzt nicht unnötig
öffnen und bin mir natürlich auch darüber im Klaren, dass es immer
ganz extrem damit zusammenhängt, in welchen „Kreisen“ man sich
gerade aufhält und welchen Menschen man begegnet– aber mir scheint
es doch unübersehbar, dass die Welt „da draußen“ (die wir
natürlich alle selbst sind) in Bezug auf Leistung immer
unnachgiebiger und deutlich härter wird. Alles wird bewertet,
beurteilt, gekauft, verkauft, alle beißen sich ständig
durch, alle dealen möglichst zu ihrem Vorteil, sei es im Business
oder privat, alle sind irgendwie neurotisch, irre, drüber, drunter,
alle klagen ständig über alle und alles, alle sind verschuldet,
alle brauchen Therapie (glücklich jene, die einen Platz kriegen –
leider reichen die Milliarden, die die Bundesregierung mit
Waffendeals reinbringt ja nicht unbedingt für diese Art von
medizinischer Versorgung), alle kämpfen verbissen um „Likes“ im
virtuellen und im echten Alltag. Die Angst, die als vermeintlich
nicht „funktionierender Mensch“ erlittenen Traumata nicht
überwinden zu können und mit diesem Stempel des Scheiterns nichts
Besonderes mehr sein zu können sein, dabei von den „Glücklichen
und Erfolgreichen“ weiter übersehen zu werden, nirgendwo erkannt
zu sein, schnürt so vielen Menschen Seele und Kehle zu. Das ist
langsam wirklich nicht mehr witzig.
Und in all dem Bemühen, irgendetwas
darzustellen, was wir vermeintlich sind oder auch eben nicht sind,
übersehen wir irgendwie zwanghaft, dass es ja gar nicht mehr
gibt, als dieses Sein, dieses Wunder, das uns geschenkt
wurde, den himmlischen Funken, der in uns glüht, der uns einfach
lebendig sein lässt, der uns die Fähigkeit verliehen hat, einfach
(sic) zu sein, wenn möglich einfach zu lieben. Was suchen wir
eigentlich, die Nase ständig auf der staubigen Straße?
Kürzlich hab ich mal ein Interview mit
dem Singer-Songwriter John Mellencamp gelesen, in dem er gefragt
wird, wie er eigentlich so damit zurecht kommt, dass er kein
„Superstar“ mehr ist und wie er das alles nach Herzinfarkt,
Verlust von Ehe, Beziehungen und guten Deals eigentlich so sehen
würde. Er antwortete, dass er Jahre damit verbracht hat, wie ein
verbissener Hornochse zu versuchen, wieder „nach dort oben“ zu
kommen – dann hätte er aber eines Tages nach kurzem Innehalten
aufgegeben, weil festgestellt: „Hm. Shit. Ich versuche also wieder
nach da oben zu kommen. Aber … ähm. Da war ich ja schon.
Und da ist ja gar nichts!“
Erinnert sich zufällig noch jemand an
den wunderbaren Ausspruch von Jesus - den mit den „Lilien auf dem
Felde“? Für die vielen Seelen, die das entweder vergessen haben
oder gar nicht wissen wollen, die dazu womöglich nicht mit
exorbitanter Leistung-bis-zum-Unfallen-Bereitschaft und einem
Durchsetzungsvermögen gesegnet/gestraft sind, das sich mit Inbrunst
und breiter Brust in all die tosenden Herbst- und Winterstürme des
zivilisierten Dschungel-Lebens stellt, ist das Leben in dieser Welt
ein ganz schön heftiger Ritt. Ich kann natürlich nicht sicher
sein.. aber ich glaube, ihr versteht. Ich fühle mich da jedenfalls
beteiligt. Für mich ist das Leben ein heftiger Ritt.
Ich überspringe mal das „Unwort des
Jahres“ (was auch immer das diesmal offiziell sein mag) und komme
flugs zu meinem persönlichen „Unsatz des Jahrzehnts“. Er ist
nicht neu, fiel mir im Vorfeld der Bundestagswahl aber wieder ein
paar Mal ins Auge: Er lautet „wir müssen fördern und fordern“
und bezeichnet (mit gefühlt süffisantem Unterton) wohl so etwas wie
den Grundpfeiler unseres Wuchtbrummen-Sozialsystems.
Für mich, einen Menschen, der trotz
und in all seinem alltäglichen Scheitern immer weiter (jawohl,
jawohl, natürlich auf äußerst unvollkommene Weise – habt ihr den
Korken gehört, der grad mit Schmackes aus dem Flaschenhals flog?)
versucht, das Wesen der Gnade, der Vergebung und der Liebe zu
erspüren, ist das an Zynismus kaum zu überbieten, heißt es doch
nichts anderes als: Hey, verstehst du nicht? Es gibt hier verdammt
nochmal keine Geschenke, es gibt keine Barmherzigkeit. Alles ist
Leistung. Du bekommst nur etwas, wenn wir dafür etwas
zurückbekommen. Aber mal ehrlich: Screw it. Dieses System, das
sich in uns allen längst einen lauschigen Platz an den
Spirituosenfässern der Hobbykellerbar gesichert hat, ist doch nicht
nur im Begriff zu scheitern, sondern schon längst in Tausende von
Teilchen zersprungen. Dummerweise sind diese Teilchen aber keine
Theorie, keine physikalischen Einheiten, sondern menschliche Seelen.
Es sind jene Seelen, die entwürdigt in den Randbezirken unserer
inneren und äußeren Shoppingmeilen (oder auch: Arge & Co und
so) kauern und nichts anderes ersehnen, als etwas geschenkt zu
bekommen, ohne dafür etwas leisten zu müssen. Und nein, ich sage es
vorsichtshalber mal dazu: ich meine nicht Marzipankartoffeln, sondern
Würde, Liebe und Wertschätzung. Und ich rede auch nicht nur von den
offensichtlich Gescheiterten, sondern von uns allen.
Ich bin dabei nicht naiv genug, zu
glauben, dass die Liebe und der in ihr enthaltene Geist des Gebens
das Leben auf dieser Welt jemals regiert hätten, aber ich bin
immerhin naiv genug zu glauben, dass es möglich ist, diesem Geist
wenigstens einen kleinen, vielleicht wachsenden Teil unserer eigenen
kleinen Welt zu überlassen. Deshalb schreibe ich diese Zeilen hier
also in meinem Weihnachtsnewsletter. Wahrscheinlich schreibe ich sie
aber auch, weil ich mich gesegnet und beschenkt fühle, da ich
Menschen kennen und sogar meine Freunde nennen darf, die sich von
dieser Liebe geleitet fühlen.
Auch wenn es immer wieder überraschend
ist: Weihnachten ist tatsächlich ja nicht das Fest des
Ipad-Schenkens. Es ist Symbol für das ultimative Geben – ob man's
nun glaubt oder nicht, die Symbolik ist und bleibt ja großartig: in
einem kleinen Stall in Bethlehem kommt derjenige zur Welt, dessen
Geist uns allen die Freiheit schenkt, nicht mehr leisten zu müssen –
sondern „nur“ noch sein zu dürfen, wozu wir alle hier sind: Zu
lieben, uns selbst in dieser Liebe gegenseitig zu verschenken. Ein
Geschenk, die Erlaubnis zur Barmherzigkeit: Die Welt des „Forderns“
zu einer Welt des Gebens zu machen, in der wir alle automatisch
„gefördert“ werden. Da ist kein Müssen. Aber Dürfen.
Ich habe in den vergangenen Wochen auf
Tour viel über die „Revolution“ gesprochen und gesungen, die auf
unserem neuen Album Titel und Thema ist (siehe die älteren
Newsletter bzw. im Blog) – und ich habe dabei so viele wunderbare
Rückmeldungen bekommen, in denen mir die Menschen erzählen, dass
sie sich wirklich angeregt fühlen, es zu wagen, Schritte in diese
Richtung „Loslassen statt Rechthaben“ und „Gnade statt Moral“
mitzugehen. Einige haben mir geschrieben, sie hätten „es getan“
und mir von den Veränderungen berichtet. Das ist wirklich wunderbar
– und auch für mich sehr ermutigend. Ich selbst maße mir dabei ja
nicht an, darüber mehr zu wissen als irgendjemand von euch. Mehr
noch: Ich bin und bleibe Praktikant. Ich habe deshalb wohl einfach
Sehnsucht danach, dass es uns irgendwie gemeinsam gelingt. Geben und
Nixzurückwollen. Fördern und Schenken. Fördern und Klappe halten.
Ich verzichte hier des weiteren
ausnahmsweise mal auf sämtliche Profanitäten, erst recht also
darauf, auf meine aktuellen Werke hinzuweisen. Nur eines davon (kost
aber nix) sei euch bei Interesse ans Herz gelegt, nämlich das
frischgedrehte Video zu einer akustischen Version unseres Songs
„N.O.A (nach oben abstürzen)“, das Henry, Karsten und ich
spontan in all dem Trubel zwischen ein paar Tourterminen bei mir
zuhause im Wohnzimmer aufgenommen haben. War ein ziemlich gemütlicher
Abend. :-) Es ist übrigens ein Liebeslied (inkl. Sehnsucht, siehe
oben, siehe immer, siehe unten) Wahrscheinlich überrascht das ja
niemanden so wirklich. :-) Hier isses:
Oh, bevor ich's vergesse und sich noch
jemand über den Bruch von alten Bräuchen beschwert. ;) Hier
natürlich noch mein Zitat des Monats.
„Du bist überall – trotzdem
habe ich Heimweh nach Dir“
(Rumi)
Ich wünsche euch allen ganz wunderbare
Weihnachten und ein frohes und schönes neues Jahr. Wir sehen uns auf
Tour oder bei anderer Gelegenheit. :-)
pax
jens
Alben
IV:
Revolution (2013) Anklagend Schweigend Rosenrot (2012) Am Ende des
Tages (2012) Viva Dolorosa (2010) Reisefieber (2007) Himmelherz
(2005)
Bücher
Interview
mit dem Teufel (2011) Der Tag des Schmetterlings (2009) Steiner
(2007)
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